Ein besseres Verständnis – darum geht es, und so gesehen verschmelzen im Vöhrumhaus auch die Rollen des Musikers als Lehrer und des Zuhörers als Schüler miteinander. Die Wechselbeziehung zwischen beiden ist selten intensiver zu spüren als in dieser Stätte musischer Begegnung. Diese Institution ist so außergewöhnlich, dass sie einiger erklärender Worte bedarf, die zugleich andeuten möchten, wie glücklich sich die Vöhrumer und damit auch die Peiner Musikfreunde schätzen dürfen, dass es dieses Haus bei ihnen gibt. Initialzündung in Berlin. Dort lebten die Musikdoktorandin Raminta Lampsatis und die Gesangsstudentin Annelies Zaminer. Zu deren Freundeskreis gehörte neben anderen die junge Pharmazeutin Heidi Spenke, die bald nach Vöhrum verzog. Es ging ihr gut in der Provinz, nur die Musik fehlte ihr, wie sie die Freundinnen einmal wissen ließ.
Dagegen könne man ja etwas tun, meinten die beiden Musikerinnen, erklärten sich bereit, auch einmal auf dem Lande zu musizieren: Beginn einer Kammermusikreihe. Zaminer und Lampsatis gaben am 11. Dezember 1976 in der Vöhrumer Schule einen Liederabend, unter anderem mit dem ersten Teil von Hindemiths “Marienleben”. Die räumlichen Voraussetzungen waren nicht besonders erfreulich. Pastor Gerhard Williges bot daraufhin für den zweiten Teil des Zyklus die schöne alte Dorfkirche an, wo dann der nächste Liederabend am 14. Mai 1977 gegeben wurde.
Heidi Spenke, während der schweren Nachkriegsjahre aufgewachsen, hatte selbst nie Gelegenheit und später auch keine Ambitionen, selbst ein Instrument spielen zu lernen. Sie spricht heute sogar von einer gewissen Schwellenangst der Musik gegenüber, aber sie weiß auch: “Ich brauche die Musik.”
Sie sollte ihn Musik bekommen, und zwar sehr gute; denn die von ihr organisierte Vöhrumer Kammermusikreihe zeichnete sich von Anfang an durch hohes Niveau aus. Die Berliner Freunde hatten ausgezeichnete Kontakte zu renommierten Künstlern, die dann in Vöhrum auftraten; die Programmauswahl der ersten Konzerte ließ Kennerschaft und Sinn für das Außergewöhnliche erkennen. Da gab es spanische Lieder von Komponisten, die seinerzeit kaum jemand kannte, da gab es einen Flötenabend, man führte die “Winterreise” auf, da waren selten gespielte Orgelwerke zu hören, und immer wieder wurden die Besucher mit der Musik Litauens, der Heimat von Raminta Lampsatis, vertraut gemacht. Die musikalischen Darbietungen standen nicht allein, vielmehr fanden zugleich immer auch Ausstellungen statt – und so ist es bis heute geblieben.
Mit den Jahren festigte sich um Spenke und Lampsatis ein Freundeskreis, der die Kammermusikreihe trug, wobei Heidi Spenke – unterstützt von Elke Sachse – stets die Fäden am Ort in der Hand behielt, während Raminta Lampsatis, heute Professorin in Hamburg, die künstlerische Leitung innehatte. Bei ihren Konzertreisen und an den Hochschulen lernte sie Musiker kennen, die gern bereit waren, in Vöhrum aufzutreten, wo sich nun auch ein fester Publikumsstamm entwickelt hatte. Abseits vom üblichen Konzertgeschäft etwas Ausgefallenes zu versuchen, das war die Idee, die Zukunft hatte. Allerdings setzten die räumlichen Gegebenheiten der Phantasie enge Grenzen. “Die Zeit war reif für eine wunderbare Idee, die der Freundeskreis in die Tat umsetzte”, erinnert sich Raminta Lampsatis.
Ein altes, verfallenes Stallgebäude wurde nach Plänen des Architekten Paul Lüdicke, Markoldendorf, im Stil eines niedersächsischen Zweiständerhauses zum heutigen “Vöhrumhaus No. 5” umgebaut. In dem Namen sollte die alte Ortsbezeichnung Vöhrum, heute Ortschaft der Stadt Peine, erhalten bleiben. Raminta Lampsatis, Professorin in Hamburg, ist musikalische Leiterin der konzertanten Veranstaltungen im Vöhrumhaus. Der Veranstaltungsraum entstand an historischer Stelle (Haus -jnummer 5), und dies wurde ganz bewußt dokumentiert. Die drei Luftschlitze am Heuboden des Gebäudes blieben erhalten und können heute als Symbol für jene drei Künste gedeutet werden, die hier eine Pflegestatt gefunden haben: Musik, Malerei und Dichtung.
Ja, auch Dichtung, denn hin und wieder finden Lesungen statt. So trug mehrmals Kurt Sundermeyer seine Lyrik vor. Dieser feinsinnige Mann, der tiefe Gedanken in wenigen, schwingenden und oft gleichsam musizierenden Worten auszudrücken verstand, er erreichte zeitlebens ein nur kleines Publikum, obwohl ihn bedeutende Literaten bewunderten. Im Vöhrumhaus fand er stets einen mitempfindenden Zuhörerkreis. Kurt Sundermeyer hat den Geist des Hauses genossen.
Doch zurück zum 5. September 1981: Einweihung. Konzert aller Künstler, die bis dahin mitgewirkt hatten. Konzert aller Künstler, die bis dahin mitgewirkt hatten. Liederabend mit: Dirk Sagemüller und Raminta Lampsatis. Tags darauf eine Eröffnungs-Matinee mit Annelies Zaminer, Regine Becker, Dirk Sagemüller, Günther Werner und Michael Kollars, dessen Ehefrau Raminta Lampsatis selbstverständlich am Flügel begleitete. Dazu waren japanische Reliefdrucke von Keiko Hara zu sehen. Ein Kulturwochenende im neuen Vöhrumhaus, das Maßstäbe setzte.
Für Heidi Spenke sind Entstehung und Entwicklung des Vöhrumhauses beglückend. Sie freut sich darüber, dass jenes alte Wirtschaftsgebäude erhalten blieb, dass die Nachbarn sich so tolerant verhielten, es hinnahmen, dass oft stundenlang geprobt wurde und schließlich einer Grenzbebauung zustimmten, die erforderlich wurde, als man das anfangs recht kleine Haus um einen Saal für 120 Besucher erweiterte. Immer wenn Not am Mann war, kam Hilfe. Kein Problem, in den ersten Jahren ein geliehenes Klavier über die Straße zu wuchten, nein, es schien geradeso, als wirke die Harmonie, die in diesem Haus gepflegt wurde, nach außen, als bemächtige sie sich auch derer, die nicht unbedingt einen Nerv für Musik haben.
Bei aller künstlerischen Qualität der Konzerte im Vöhrumhaus wurde und wird Perfektionismus nicht angestrebt. Bei den Matineeveranstaltungen herrscht eher Experimentierfreudigkeit vor: Werkstattcharakter. Da dürfen neue Wege beschritten, neue Arten der Kunstpräsentation erprobt werden. Da kommt der renommierte Pantomime Zigmas Kudra hinzu, Märchen haben ihren Platz, Hochschulklassen sammeln erste Konzerterfahrungen, und der Umstand, dass die künstlerische Leiterin Hochschullehrerin ist, garantiert dafür, dass inhaltlich nichts in Routine erstarren kann, verspricht vielmehr immer wieder Überraschungen.
Musik ist keine Sache für die düstere Studierstube. Musik will hinaus, will Menschen erreichen und zusammenführen. So ist denn das Miteinander von Publikum und Ausübenden, ist das Gespräch der Künstler untereinander und mit ihren Zuhörern für Heidi Spenke mehr als Begleiterscheinung, nämlich Teil des Konzepts.
Die Termine werden langfristig geplant und in die Konzertverpflichtungen der Musiker integriert. Für viele ist das Vöhrumhaus dann Stammquartier, hier finden sie für ein paar Tage eine Bleibe, hier können sie zwischen ihren Auftritten wieder Kraft schöpfen.
Das Atmosphärische ist es, was die Institution Vöhrumhaus vom üblichen Kulturmarkt unterscheidet. Es gibt darüber hinaus noch einen ganz pragmatischen Grund: Das Vöhrumhaus zahlt keine Gagen. Spenden der Besucher werden lediglich erbeten, um die Sachkosten zu begleichen, notfalls springt der Freundeskreis ein, doch ist das in der Regel nicht nötig. Der Lyriker Kurt Sundermeyer war mehrmals Gast im Vöhrumhaus, um seine Gedichte vorzutragen. “Du auch?” schrieb er für Heidi Spenke aus dem Gedächtnis in seiner auch im Alter schönen Handschrift nieder. Wenn jemand vielleicht mit der ganzen Familie am Erlebnis Vöhrumhaus teilnehmen möchte – am Eintrittspreis soll’s nicht scheitern. Diese Regelung bringt natürlich auch den Nebeneffekt, dass die Programmauswahl keinerlei Rücksicht auf den Publikumsgeschmack nehmen muss.
Inzwischen haben sich Niveau und Fluidum dieser privaten Musikhalle in der Klassik-Szene herumgesprochen. Die Stammgäste kommen aus Hamburg, Hannover, Braunschweig und auch aus Vöhrum. Eine unkonventionelle Kulturinstitution, wenn dieser pompöse Ausdruck überhaupt erlaubt ist, hat sich durchgesetzt. Und die Kulturlandschaft lebt schließlich von solchen Farbtupfern. Ermutigend, dass solches Tun ohne Subventionen möglich ist, erfreulich, dass Musikpflege nicht erstarrt, sondern dass Menschen wie Raminta Lampsatis oder Heidi Spenke für ein “agitato” sorgen.
Alles, was das Vöhrumhaus heute ist, verdankt es privater Initiative. Gleichwohl wendet es sich an die Öffentlichkeit. Jedermann hat Zugang, ist herzlich willkommen. Denn Begegnung ist das Leitmotiv, da wäre es unsinnig jemanden auszugrenzen. Wer an langfristigen Konzertterminen interessiert ist, kann sie telefonisch unter 05174-1075 erfragen beziehungsweise der Presse entnehmen. Jeder ist eingeladen, der erfahren möchte, was sich “außerhalb der Welt der Dinge bewegt und entwickelt”. Da sind auch Kinder nicht ausgenommen. Gerade sie liegen Heidi Spenke besonders am Herzen. Die Initiatorin, die gern auch spezielle Kinderkonzerte in ihr Programm aufnimmt, könnte sich diesbezüglich auf Sir Yehudi Menuhin berufen, der einmal sagte: “Nach meiner Meinung sollte die erste Begegnung eines Kindes mit Musik so sein, dass seine Phantasie, seine Gefühlswelt, seine Träume, vielleicht sogar sein Ehrgeiz geweckt und angespornt werden.”
Die Musikfreunde, die hinter der Idee Vöhrumhaus stehen, möchten Ähnliches; denn sie finden, Menschen – alt oder jung – sollten sich von Neuartigem bewegen lassen. Das Vöhrumhaus bietet dazu vielfältig Gelegenheit. Es ist eine Stätte des Lebens und Erlebens. Schön, dass es dieses Haus gibt.
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